Hanne Thilker-Kulgemeyer                           

zu meinen Arbeiten:




Textauszüge einer Rede von Frau Dr. Alexandra Kolossa

anlässlich der Ausstellung " Liniengestalt" 2011, in der Friedenskirche, Krefeld


Ausgangspunkt aller Arbeiten, ob Zeichnung, Objekt oder Skulptur, ist die Linie.

 

Jeweils in unterschiedlicher Dichte und Präsenz sucht sich die Linie immer ihren Weg,

beschreibt und umschreibt Köpfe und Figuren oder erstreckt sich als Lebenslinien in

der Horizontalen. Egal in welchem Genre, stets arbeitet Hanne Thilker-Kulgemeyer

an der Grenze zwischen Figuration und Abstraktion. Denn auch wenn die Linie

als Ausgangselement Figuren und Formen umschreibt, so bleibt sie doch im Grunde

ein autarkes lineares Element in der Kunst von Hanne Thilker-Kulgemeyer.

Die Linie,die auf sich selbst verweist.


Zum Beispiel die Köpfe. Der Kopf, insbesondere das Gesicht ist ein wichtigstes

Wesensmerkmal des Menschen, wenn nicht sogar das wichtigste. Das Gesicht prägt

die Individualität jedes Einzelnen. Im Gesicht findet die Mimik ihre Entsprechung,

besondere Kennzeichen machen den Menschen mitunter unverwechselbar. Doch

Hanne Thilker-Kulgemeyer anonymisiert diese Köpfe mit ihren Linien, legt unzählige

lineare Schichten übereinander, so dass der Eindruck von Bandagen entsteht.


Dieses aufgelegte Netz aus Linie entfernt den Betrachter immer mehr vom

eigentlichen Anblick, vom direkten Gegenüber. Und gleichzeitig unterstreicht diese

Distanz den Gegenstand umso stärker. Ein Widerspruch, der nachdenklich macht.


Das den Augen Verborgene wird sichtbar gemacht. Und gerade die Kargheit der

stilistischen Mittel eröffnet neue Sichtweisen. Durch die Negation von

Gesichtsausdruck und Aussehen und die gleichzeitige Betonung der Kopfform wird

der Blick des Betrachters auf die inhaltliche Ebene gelenkt, auf den Raum hinter der

sichtbaren Fassade, auf den Geist. Denn wichtiger als die oberflächliche Kopfform,

die nur als äußere Fassung dient, ist das, was im Inneren steckt, jedoch dem Blick

verborgen bleibt.


Die Individualität, die Einzigartigkeit eines Menschen definiert sich

nicht nur über das äußere Erscheinungsbild, sondern ganz entscheidend über sein

Denken, Handeln und Tun. Diese prägenden Merkmale werden vom Gehirn

gesteuert und gelenkt.


Sich diesem aufschlussreichen und zugleich verschlossenen Bereich des Menschen

zu nähern, daran arbeitet Hanne Thilker-Kulgemeyer, sie arbeitet sich regelrecht

daran ab, wie ihre Arbeiten zeigen. Ganze Kopfreihen sind in der Auseinandersetzung

entstanden. Jedoch liegt in der Wiederholung keine Wiederkehr. Kein Kopf gleicht

dem anderen. Fast möchte man sagen, dass das Anonyme individuelle Züge erhält.


Das gedankliche Spiel, verborgene Räume sichtbar zu machen, sich ihnen

anzunähern, wird in den Kopfskulpturen wortwörtlich übersetzt. Die den Zeichnungen

grundlegende Linie täuscht Dreidimensionalität vor, die in den raumgreifenden

Objekten übersetzt wird. Der Raum hinter der Fassade wird nun sichtbar und erfahrbar.


Die Linie ist nun losgelöst von zweidimensionalen Grenzen, kann sich ausdehnen,

auch wenn sie interessanterweise die dritte Dimension in die Tiefe nicht ausnutzt.

So befreit entpuppt sich ein interessantes Spiel von positivem undnegativem

Raumgefühl, zwischen scheinbarer Oberfläche und verborgenen Qualitäten.

Die Transparenz der Skulpturen von Hanne Thilker-Kulgemeyer steht für die

Vergeistigung, für die Vereinigung von Mensch, Kunst und Geist.


In den Arbeiten zeigt sich nicht nur die inhaltliche, sondern auchdie technische

Bandbreite von Hanne Thilker-Kulgemeyer, von derMalerei über Holzschnitt bis zur

Skulptur. Dabei scheint es der Künstlerin wichtig, dass die verschiedenen Gattungen

nicht gewertet werden, sondern gleichwertig zu betrachten sind. Sie überwindet

die akademische Trennung von Malerei, Zeichnung und Skulptur, und stellt jeden

einzelnen Bereich gleichberechtigt nebeneinander.


Zum Beispiel der Druckstock. Im Gegensatz zur geläufigen Vorgehensweise, die

bearbeitete Holzplatte lediglich als Vorlage zur Herstellung von Druckgrafiken zu

nutzen, stellt Hanne Thilker-Kulgemeyer den Werkstoff selbst aus. Der bearbeitete

Holzstock, der gewollt Arbeitsspuren erkennen und nachvollziehen lässt, wird nicht als

handwerkliches Mittel, sondern als eigenständiges dreidimensionales Objekt

exponiert. Es ist nicht nur der Wechsel der Perspektive, sondern auch der Wechsel

vom dreidimensionalen Objekt zum zweidimensionalen Bild, der im direkten

Vergleich fasziniert.



Auch in den jüngsten Arbeiten der Künstlerin ist es noch immer die Linie, die

bildbeherrschend ist. Die Linie ist nun präsenter, pastoser, beschreibt ganze Körper.

Die Linien verdichten sich, mal liegend, mal stehend, zu Figuren, die in ihrer Aussage

ähnlich sind wie die Köpfe, anonym und gleichzeitig beschreibend.

Neu in den Arbeiten sind die farblichen Akzentuierungen, die mal mehr mal weniger

stark ausgeführt sind. Zudem kommen stellenweise Elemente der Collage. Vereinzelt

sind andere Materialien auf den Bildträger gebracht, geben neue Impulse, bauen

Spannungen auf, und spielen mit den Sehgewohnheiten der Betrachter. Die Bilder

bekommen mit dem Zusatz dieser Elemente wiederum skulpturalen Charakter, ragen

von der Zweidimensionalität in den Raum hinein.


Eine wesentliche Qualität der Arbeiten von Hanne Thilker-Kulgemeyer ist das

spannungsreiche Spiel der reduzierten Linie im Wechsel zwischen den Dimensionen

und den Materialien, zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Der Titel

"Liniengestalt" beschreibt diesen Wechsel sehr treffend.


Gegensätzlich zur Vorgehensweise eines Archäologen, der Schicht um Schicht

abträgt, um zum Kern vorzudringen, konstruiert Hanne Thilker-Kulgemeyer neue

Schichten und Sichtweisen um den Kern herum. Sie verhüllt und legt ihn dennoch

frei.




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